Commentary regarding the commensurability of the anti-corona measures (German)

Vorrang vor Gesundheitsschutz und Leben vor Corona und während Corona

Nimm was Du willst, und zahle Deinen Preis. So lautet ein Sprichwort als Hilfe für einen Menschen, der sich für eine von mehreren Möglichkeiten entscheiden muss. Es lässt sich auf die Gesellschaft, die mit dem Coronavirus umgehen muss, übertragen. Was immer wir in dieser Situation tun - es geht nicht ohne Nachteile. Wobei die Gesellschaft nicht nur den Preis akzeptieren muss, sondern sich auch einigen muss, wer ihn zu zahlen hat.

Schon auf der ersten Stufe: was wollen wir? gibt es offenbar Unklarheit. Zunächst hieß es, das Gesundheitssystem darf nicht überlastet werden, jeder muss im Bedarfsfall ein Intensivbett zur Verfügung haben. Diese Wahl wurde getroffen, ohne dass über die Kosten hierfür ernsthaft diskutiert wurde. Sie betragen neben den in diesem Zusammenhang zu vernachlässigenden Behandlungskosten: 6 Millionen Arbeitslose, vernichtete Existenzen, sogenannte Hilfspakete in dreistelliger Milliardenhöhe auf der rein wirtschaftlichen Seite. Zugegeben: diese Kosten sind nicht nur durch die Entscheidungen unserer Regierungen veranlasst, sondern zum Teil durch die lockdowns in Europa und anderen Ländern. Aber die sozialen Kosten - Eltern, die nicht wissen, wie sie die Betreuung ihrer Kinder und ihre Berufstätigkeit vereinbaren sollen, Schüler, die über Monate nichts lernen, Kleinkinder, die sich nicht bewegen und mit anderen spielen können, Menschen, die häuslicher Gewalt ausgeliefert sind - gehen ausschließlich auf die Entscheidungen in unserem Land zurück.

Das ist alles bereits bezahlt - die Diskussion darüber, ob der Preis angemessen war, muss nicht mehr geführt werden. Aber die Frage, wie wir weitergehen, nachdem das Ziel -Intensivbett für jedermann - mehr als erreicht ist, und welchen Preis wir weiter zahlen sollen, bleibt.

Jetzt scheint der Wunsch zu sein, dass niemand an oder mit Corona stirbt. Denn es hat sich gezeigt, dass auch bei optimaler Behandlung Todesfälle nicht auszuschließen sind. Was wären die Kosten dafür? Wenn wir dieses Ziel erreichen wollen, könnte man versuchen durch weiteren noch strengeren lockdown und Abschottung, das Virus auszumerzen. Dass dies für eine Gesellschaft in der Mitte Europas, die vom Handel und Austausch mit anderen Staaten lebt, bei diesem leicht übertragbaren Virus keine realistische Möglichkeit ist, dürfte auf der Hand liegen und wird von den Virologen Prof. Drosten und Prof. Streeck, Leiter der Heinsbergstudie, so eingeschätzt. Die Alternative ist durch Fortsetzen des lockdowns die Ausbreitung so weit wie möglich und damit Todesfälle zu verhindern. Kosten hierfür: siehe oben. Politiker, die nach den Möglichkeiten von weiteren Lockerungen gefragt werden, wiederholen stereotyp: die Gesundheit und das Leben haben absoluten Vorrang. Wer wann die wirtschaftlichen Kosten tragen soll, wie die sozialen Folgen auszuhalten sind, darf - da es ja um das höchste Gut Leben und Gesundheit geht - nicht hinterfragt werden. Jeder Preis für dieses Ziel, soll gezahlt werden müssen. Eine Diskussion ist nicht erwünscht.

Man kann ja so entscheiden. Nur: wie passt das mit den bisherigen Entscheidungen, die in Bezug auf die Gesundheit der Menschen getroffen wurden, zusammen?

Hier ein kleiner Überblick:

Jährlich 57.000 Menschen erkranken an Lungenkrebs*, jährlich sterben rund 46.000 Menschen daran und weitere rund 9.000 an COPD. Hauptursachen: Rauchen und Feinstaub. In Deutschland gibt es bis heute kein umfassendes Werbeverbot für Tabakerzeugnisse, wie man gerade an den jetzigen Bemühungen der Regierung, ein solches langfristig auf den Weg zu bringen, in den Zeitungen nachlesen kann. Unsere Regierung ist jahrzehntelang vor der Tabaklobby eingeknickt – zuletzt indem sie sich geweigert hat, das Rauchverbot in Gaststätten über den Arbeitsschutz und damit als Bundesgesetz zu regeln. Welche Maßnahmen wurden ergriffen, damit Jugendliche erst gar nicht abhängig werden? Über die fehlenden Bemühungen, die Feinstaubbelastungen zu reduzieren, sind weitere Ausführungen nicht erforderlich.

Rund 940 Menschen täglich (!) sterben an Krankheiten des Herz-Kreislaufsystems - die bekannten Ursachen für einen Teil dieser Krankheiten sind neben Rauchen Übergewicht, schlechte Ernährung, Diabetes, mangelnde Bewegung. Was wird unternommen, damit Kinder lernen, sich gesund zu ernähren? Welchen Sportunterricht bekommen unsere Kinder, in welchem Zustand befinden sich die Turnhallen? Schwimmbäder wurden geschlossen, weil kein Geld für deren Betrieb vorhanden ist. Erst jetzt bringt die Bundesregierung ein Gesetz auf den Weg, das den Zucker in Kindergetränken verbieten soll usw.

Jährlich sterben 10.000 bis 20.000 Menschen an antibiotikaresistenten Krankenhauskeimen. Wie man dies verhindern kann, zeigen die Niederlande. Die dafür notwendigen Maßnahmen wurden in Deutschland für nicht finanzierbar gehalten.

Täglich 200 bis 300 Menschen sterben an Schlaganfällen. Wo sind die Schlaganfalleinheiten, die ein schnelles Behandeln ermöglichen? Wie lange dauert es inzwischen selbst in Großstädten, bis ein Rettungswagen bei einem akuten Schlaganfall eintrifft?

Jährlich rund 3.000, also täglich 8 bis 9 Menschen sterben im Straßenverkehr, täglich rund 182 werden schwer verletzt, 887 täglich leicht. Hauptursachen: zu geringer Sicherheitsabstand, nicht angepasste Geschwindigkeit. Was haben unsere Regierungen in den letzten Jahren getan, um diese Zahlen zu verringern? Die gerade erst verschärften Sanktionen für Geschwindigkeitsüberschreitungen von mehr als 20 km/h innerorts auch bei einem Erstverstoß will unser Verkehrsminister wegen einer Onlinepetition der Autofahrer zurücknehmen. Man kann sehr oft durch Berlin mit Tempo 71 rasen, ohne dabei erwischt zu werden - Erstverstoß heißt ja nur, dass man das erste Mal geblitzt wurde. Wieviel Menschenleben und wieviel Gesundheit werden hier dem Wunsch nach schneller Bewegung geopfert, ohne dass offengelegt wird, welche Wertungen dem zu Grunde liegen?

Die Liste der ungenutzten Möglichkeiten für die Verhinderung von Todesfällen und Krankheiten, die kein Geld kosten würden, lässt sich noch lange fortsetzen. Hier wurde keineswegs immer nach der Vorgabe „Leben und Gesundheit der Menschen haben Vorrang“ gehandelt.

Dies ist die eine Seite. Die andere sind die Kosten im Gesundheitssystem, die über die Krankenversicherungen bezahlt werden müssten.

In der Vergangenheit wurde immer abgewogen, welche Kosten für die Behandlung von Krankheiten aufgewendet werden. Wir haben es nicht nur getan, sondern wir müssen es auch tun, denn unsere Ressourcen sind endlich, auch wenn wir uns gerade so verhalten, als wären sie es nicht. Warum also tun wir jetzt alles, was wir können und noch weit mehr (die Kosten werden ja über Schulden in die Zukunft verlagert), damit niemand an einer Infektionskrankheit stirbt? Und zwar an einer, die bezogen auf die Gesamtbevölkerung eine Letalität wohl um die 0,3 Prozent hat***. Ist das rational zu erklären? Es passt jedenfalls nicht zu den sonstigen Entscheidungen und Handlungen unserer Regierung. Deshalb ist es auch kein Wunder, dass jetzt Verschwörungstheorien Hochkonjunktur haben. Warum haben die Menschen mehr Angst, an Covid 19 zu erkranken als bei der Teilnahme am Straßenverkehr - auch als Fußgänger - verletzt zu werden? Und werden wir bei der nächsten Grippeepidemie, bei der sich eine Übersterblichkeit von 25.000 Toten abzeichnet (so die geschätzte Zahl für den Winter 2017/2018) wieder einen lockdown vornehmen? Oder sind 25.000 zu wenig, reagieren wir erst bei 50.000? Oder schon bei 10.000? Erarbeiten wir dafür auch Kriterien wie jetzt die maximal 50 Neuinfizierten pro Woche auf 100.000 Einwohner für erneute weitere Einschränkungen?

Inzwischen wissen wir genug über das Virus, um eine Eindämmung der Epidemie auch ohne große Einschränkungen so zu erreichen, wie es das ursprüngliche Ziel war: kein Zusammenbruch des Gesundheitssystems. Dafür brauchen wir als erstes Aufklärung - alle müssen wissen, was ein Virus ist und wie dieses Virus übertragen wird und weshalb die Beschränkung der Kontakte und das Abstandhalten zu einer Verlangsamung der Ausbreitung und damit zeitlicher Entlastung des Gesundheitssystems beiträgt. Aber alle sollten auch wissen, dass für gesunde Menschen die Gefahr, schwer an Covid 19 zu erkranken oder zu sterben, gegen Null geht. Und dass auch alte Menschen fast immer nur dann einen schweren Verlauf haben oder daran sterben, wenn sie vorerkankt waren. Warum wird in den Medien immer wieder betont, dass auch junge Menschen daran erkranken oder sterben können? Damit der Teil der Bevölkerung, der sowohl die sozialen als auch die wirtschaftlichen Folgen zu stemmen hat, die strengen Maßnahmen akzeptiert? Damit die Menschen Angst haben und alle Einschränkungen hinnehmen? In der Altersgruppe der 5 bis 44jährigen sterben täglich rund 390 an Krankheiten des Herz-Kreislaufsystems - war das jemals eine Meldung wert?

Wenn wir ausreichend aufklären und auf die Vernunft der Menschen setzen, brauchen wir keine Einschränkungen mehr. Kinder und Jugendliche erkranken nicht - Kitas und Schulen bis zur 10. Klasse müssen geöffnet werden. Sie geschlossen zu halten, damit möglichst wenig Infizierte dazu führen, dass die Risikogruppe nicht infiziert wird, ist unverantwortlich. Hier werden die Kosten für die Vermeidung von Infektionen mit großer Selbstverständlichkeit auf die Kinder und die Eltern junger Kinder abgewälzt, die auch die wirtschaftlichen Folgen schultern müssen. Dabei kann jeder Mensch, der nicht mehr arbeiten muss, sich selbst vor einer Infektion schützen - niemand muss einkaufen gehen und niemand aus der Risikogruppe muss engen Kontakt zu anderen Menschen haben, solange die Epidemie läuft und weder ein Impfstoff noch ein Medikament vorhanden ist. In Alters- und Pflegeheimen kann und sollte mit Schutzmasken gearbeitet und ein Eindringen des Virus verhindert werden. Aber auch hier sollten die Bewohner die Wahl haben, ob sie lieber an Einsamkeit leiden oder das Risiko einer Erkrankung in Kauf nehmen und Besuch erhalten und feiern dürfen. Dies dürfte einen gewissen organisatorischen Aufwand erfordern, muss aber möglich sein.

Aber: welchen Preis auch immer wir zu zahlen bereit sind: wir werden eines Tages sterben. Das ewige Leben steht nicht (jedenfalls derzeit) auf der Liste der auswählbaren Möglichkeiten.

* Krebsinformationsdienst

**Alle Daten sind von krebsdaten.de, statista.com und destatis.de. und beziehen sich auf Deutschland im Jahr 2017

*** Die vielen Todesfälle in der Lombardei lassen eine höhere Letalität vermuten. Sie ist u.a. aber wohl darauf zurückzuführen, dass dort viele Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen erfolgten. Man hat, um die Krankenhäuser zu entlasten, dort leichte Fälle ausgerechnet in Altenheimen untergebracht. Die hier angenommene Letalitätsrate ergibt sich aus der sogenannten Heinsberg-Studie. Da aber unbekannt ist, wie hoch die Dunkelziffer der Infizierten ist, ist es durchaus möglich, dass die Letalitätsrate noch unter 0,3 % liegt. Die Letalität von 0,3 % steht aber in Übereinstimmung mit der Letalität auf der Diamond Princess. Dort sind von etwas über 700 Infizierten zwar 7 und somit rund 1 % gestorben. Der Altersdurchschnitt betrug dort aber 60 Jahre, sodass sich hieraus auch eine Letalität bezogen auf eine Gesamtbevölkerung von 0,3 % ergeben soll.

Eva-Maria Weber-Schramm, Vorsitzende Richterin am Landgericht Berlin (i.R.)